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Kommentar

App statt Arzt: Spahns Weg zur Plattform-Medizin

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn treibt die Digitalisierung eilig voran – und droht skeptischen Ärzten mit Strafen. Bringt die starke digitale Vernetzung des Systems wirklich Vorteile für Arzt und Patient? Dr. Silke Lüder, Allgemeinmedizinerin aus Hamburg, ist überzeugt: Ärzte sollten sich der unkritischen Anbetung des Digitalen widersetzen. Ein Kommentar.

Lüder: "Ein Übermaß an Fremdbestimmung führt zu geschwächter Selbstverantwortung."

Von Dr. Silke Lüder

„App vom Arzt: Bessere Gesundheit durch digitale Medizin“ – das Buch von Jens Spahn, Jörg Debatin und Markus Müschenich aus dem Jahr 2016 hat die Politik von Bundesgesundheitsminister Spahn klar vorgezeichnet. Alle in dem Werk beschriebenen Ziele wurden in 20 Monaten in 20 neue Gesetze gegossen – damit waren der Bundestag, die Parteien und die Ärzteschaft komplett überfordert.

Dieser Gesetzestsunami kündigt eine totale Transformation der Medizin in Deutschland an: elektronischer Notfalldatensatz, elektronischer Medikationsplan, elektronische Rezepte, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (auch bei ausschließlicher Fernbehandlung fremder Patienten), digitale Gesundheitsanwendungen, digitale Pflegeanwendungen, Auswertung aller Krankheitsdaten aus der ambulanten Medizin ohne Zustimmung der Patienten für Versorgungsforschung und Gesundheitsberichterstattung, umfassendste zentrale Datensammlung zu jeglicher Art von Implantaten ohne Kontrolle durch die betroffenen Menschen, elektronische Impfpässe, Mutterpässe und Organspendeerklärungen und sonstige Erklärungen der Patienten in elektronischer Form und zentral gespeichert. Diese Liste der Neuerungen ließe sich noch weiter verlängern.

Kaum an die Spitze des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) gelangt, schasste Spahn den Leiter der gematik-Gesellschaft, Alexander Beyer. Zudem sorgte Spahn kurzfristig dafür, dass aus der einstmals als Organ der „Selbstverwaltung“ konzipierten gematik ein von seinem Ministerium beherrschtes Machtinstrument mit 51 Prozent Stimmenanteil wurde. Der Minister besetzte die Schlüsselpositionen mit Bekannten wie Jörg Debatin (Leiter des „Health Innovation Hub“ im BMG), und der frühere Pharma- Manager Markus Leyck Dieken wurde Geschäftsführer.

Strafzahlungen, Drohungen erzeugen Frustration

Mit jedem Gesetz wurden die Daumenschrauben für die immer noch ihrer ärztlichen Schweigepflicht verbundenen „Leistungserbringer“, also Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten, weiter angezogen. Immer höhere Strafzahlungen verfehlen nicht ihren Zweck. Und es wird gedroht, etwa mit Verlust der Zulassung für diejenigen, die ab 2021 nicht die elektronische AU-Bescheinigung mithilfe des kostenpflichtigen elektronischen Heilberufsausweises einsetzen.

Die Zwangsmaßnahmen erzeugen Frustration, die in Berlin anscheinend niemanden interessiert. Mit den jüngsten Gesetzen hat man ja die Weichen dafür gestellt, dass Ärztinnen und Ärzte nicht mehr persönlich anwesend sein müssen, um Patienten zu behandeln. Das geht künftig alles über eine Medizin- Plattform, wo angestellte Ärzte sitzen, die den Patienten zuhause kontaktieren, um ihm anschließend ein eRezept auszustellen. Das ist eine lukrative Verbindung zwischen Telemedizinanbietern und ausländischen Anbietern von Online-Rezepten mit dem Nebeneffekt, dass auch die deutsche Apotheken-vor-Ort- Landschaft schnell stark ausgedünnt wird.

Wen interessiert im BMG, dass vor allem die Hausarztpraxen elementar von einer guten Kooperation mit nahe gelegenen Apotheken abhängig sind – vor allem jetzt während der Corona-Pandemie und der ständigen Lieferschwierigkeiten ganz wesentlicher Massenmedikamente. Entgegen den Warnungen von Apothekenverbänden, dass das eRezept zu einer reinen Handelsware verkomme, hat Spahn in das diesbezügliche Gesetz keine technisch sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von der Arztpraxis zur Apotheke für das eRezept eingebaut. Durch eine sogenannte „Weiterleitungsfunktion“ werden wir erleben, dass die Rezepte trotz aller gegenteiligen Behauptungen über die Handy-Apps der Versicherten ihren Weg zu großen Plattformen finden und die internationalen Online-Apotheken den Apothekern vor Ort das Wasser abgraben werden.

Convenience („Bequemlichkeit“) als Zugpferd

Wir kennen bereits die Plattform-Ökonomie. Die deutsche Spitzenmanagerin Marie-Luise Wolff, Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, hat das Phänomen in ihrem aktuellen Buch „Die Anbetung: Über eine Superideologie namens Digitalisierung“ aufgegriffen. Wolff beschreibt, wie aus einer weltweiten Ökonomie, die einmal im Wettbewerb um die Schaffung tatsächlicher Werte stand, eine virtuelle Plattform-Ökonomie geworden ist. Sie wird beherrscht von wenigen Digitalkonzernen wie Google, Apple, Facebook und Amazon – zusammen GAFA genannt –, bei denen es ohne wesentliche Konkurrenz um Gewinnmaximierung geht. Durch digitale „Umsonst“-Angebote wird der Nutzer selbst zur Ware, und er bezahlt mit seinen Daten, die weltweit verkauft werden.

Vordergründig wird ein Ideal von Mobilität, Flexibilität und Grenzüberschreitung gepredigt. In Wirklichkeit werden wir immer abhängiger von unserem Online-Leben, in fast allen Bereichen. Gleichzeitig entsteht eine Überwachungsmaschinerie, die nicht nur in China mit dem Sozialpunktesystem einen zutiefst beunruhigenden Status erreicht hat. Auch in den westlichen Gesellschaften sind wir zumindest auf einem ähnlichen Weg in eine totale Abhängigkeit von digitalen Tools.

Social distancing, Isolation und Einsamkeit

In der Corona-Krise zeigt die Plattform-Ökonomie ihr Gesicht überdeutlich und nimmt gerade einen massiven Aufschwung. Die Menschen sitzen zu Hause, bestellen sich alle Waren bei Amazon und lassen sie sich von schlecht bezahlten Transportmitarbeitern liefern. Die Innenstädte veröden derweil. Für viele ältere, alleinlebende Menschen ist das Gespräch im Supermarkt oder in der Apotheke oft die einzige Kommunikation des Tages. Aber auch ohne Corona führt der Aufstieg der GAFA-Monopole zu mehr Einsamkeit und Ladensterben.

Darüber hinaus wird ein großer Teil unserer Bevölkerung durch eine Medizin ausgegrenzt, in der Rezepte, Medikationspläne, Patientenakten und Gesundheitsanwendungen nur noch über Apps auf aktuellen Mobilgeräten laufen. Viele Menschen können mit diesen Geräten gar nicht umgehen oder sie schlichtweg nicht bezahlen. Ungeachtet dessen geht die Fahrt in der Medizin rasant in Richtung Plattform-Medizin – und am Steuer sitzt der Bundesgesundheitsminister.

Spahn als Vorkämpfer einer totalen Transformation

Das starke ambulante Gesundheitswesen in Deutschland bildet auch in der Corona-Krise einen Schutzgürtel für die Kliniken. Es ist fast einmalig auf der Welt. Warum muss dieses Gesundheitswesen nun maximal transformiert werden? Massivster Lobbyismus bricht sich hier Bahn für eine Übertragung der Plattform-Ökonomie auf die Medizin. Auch hier ist Convenience das Versprechen. Der Mensch soll nicht mehr in die Praxis gehen müssen. Der Teledoktor richtet es – ohne persönliche Untersuchung, ohne technische oder Laboruntersuchungen in der Praxis, ohne echte „Behandlung“, ohne die fühlbare Empathie eines „Behandlers“ als wichtige Grundlage einer erfolgreichen Therapie. Vom Teledoktor geht es weiter über die „Plattform“ mit dem eRezept – Amazon steht schon in den Startlöchern.

Und die Krankenkasse verordnet eine DiGA (Digitale Gesundheitsanwendung) gegen Depressionen. Im Pflegeheim übernimmt die DiPa (Digitale Pflegeanwendung) die Überwachung mit einem Bruchteil von menschlichem Personal. Auch die sensorausgerüstete Matte vor dem Bett kann registrieren, wenn Blut und Urin auslaufen, und der Bettsturz wird videoüberwacht. Was für eine Sparmaßnahme. Und was für ein Elend. Wir sind soziale Wesen – genau das ist es, was die Transformierer im Ministerium ignorieren.

Digitale Ohnmacht, von Algorithmen gesteuert

Die Erosion der Kommunikation hat schlimme Folgen. Das Handy ist allgegenwärtig, jeder Gesprächsfaden wird von neuen Nachrichten unterbrochen. Das Übermaß an auf jeden einzelnen einwirkenden Katastrophennachrichten aus der ganzen Welt führt nicht zu mehr bürgerschaftlichen oder persönlichen Aktivitäten, sondern zu einer digitalen Ohnmacht, die von Algorithmen gesteuert wird. Auch das angeblich geplante „Self-Empowerment“ der Patienten durch die PDF-Sammlung als elektronische Patientenakte auf dem Handy könnte sich als große Illusion herausstellen.

Den Ärztinnen und Ärzten wird heute täglich mitgeteilt, dass die Algorithmen ihre Arbeit leicht ersetzen könnten. Zudem stünden ihre eigenen Arbeitsergebnisse mitnichten unter ihrer Schweigepflicht, sondern hätten in einer überwachten Totalvernetzung allem und jedem zur Verfügung zu stehen.

Ein Übermaß an Fremdbestimmung führt zu geschwächter Selbstverantwortung – dieser Hinweis von Prof. Klaus Dörner an die Ärzteschaft besagt alles. Er sollte unsere Richtschnur dafür sein, dass wir uns dieser unkritischen Anbetung des Digitalen jetzt und in Zukunft widersetzen. Technik ist immer nur ein Hilfsmittel und sollte nie ein Herrschaftsinstrument sein.


Dr. Silke Lüder

Fachärztin für Allgemeinmedizin

Vorstandsmitglied der Freien Ärzteschaft
Mitglied der Vertreterversammlung der KV Hamburg und der Delegiertenversammlung der Ärztekammer Hamburg

Dieser Artikel erschien auch im Hamburger Ärzteblatt 02/2021 und wurde leicht gekürzt.

 

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